Gerhard Jaeschke 29.04.1940 - 14.07.1995 †   •   Henry

Günter Degen   •   18.03.2010 [18.03.2010]
Für die meisten war er nicht nur irgendein Mitglied der Fachgruppe oder des Arbeitskreises - für sie war er „Henry“, auch wenn sie nicht zu seinen engsten Freunden zählten.

Henry war kein Vollblut-Ornithologe. Dafür waren seine Interessenfelder viel zu weit gespannt. Kaum jemand, den seine mit einmaligem Naturell gepaarte zoologische Vielseitigkeit nicht beeindruckte - nicht nur die jüngeren, die diese Sichtweise aus dem Tierpark-Jugendklub mitbringen, schätzten den „ganz besonderen Charakterkopf der Berliner Naturschützer- und Naturforscherszene“. Für diejenigen Ornithologen und Nichtornithologen, denen noch der frühe BANZsche Stallgeruch anhaftet, die ihn über Jahrzehnte kannten und viele unvergeßliche Erlebnisse mit ihm verbinden, bleibt Henry Legende.

So wie jeder andere „gute“ BANZ-Schüler hat er mit dem Sammeln von Rupfungen und Gewöllen angefangen. Allerdings ließ auch bei ihm das Interesse für die Federn wie bei den meisten anderen „guten“ BANZ-Schülern frühzeitig nach und er „überließ“ seine Federsammlung „selbstlos“ dem Altmeister. Was auch blieb, war seine Beschäftigung mit den heimischen Kleinsäugern: Spitzmäuse, besonders die weißzähnigen, wurden gehalten und beobachtet; kein Nachweis, der nicht sein Interesse fand.

Ornithologische Höhepunkte der frühen Jahre waren für uns die gemeinsamen Exkursionen an die winterliche Ostseeküste: Darß, Poel, Hiddensee. Dabei wurde nicht nur der Blick für’s Ornithologische geschärft, sondern von Fall zu Fall auch bemerkenswerte Funde gemacht. So wie RECKIN 1967 seinen Schneesturmvogel und DEGEN 1965 seinen Papageitaucher hatten, gelang JAESCHKE 1966 der einzige sichere Fund einer Dickschnabellumme für Mecklenburg.

Es war aber auch die Zeit der ersten naturkundlichen Auslandsexkursionen im Keis der BANZschen Interessengemeinschaft. Bulgarien, Polen, Tchechoslowakei und Ungarn wurden nicht nur als ornithologische Zielgebiete aufgesucht. Dabei waren wir anfangs weit davon entfernt, gezielt Faunistik und Floristik zu betreiben. Bestimmungsbücher für Südost- und Osteuropa (wenn es sie überhaupt gab) waren meist fehlerhaft. So waren wir 1966 schon überrascht, daß unsere Berichte über Zwergadler-Vorkommen aus Bialowieza (den ersten beobachtete übrigens Henry) in Kreisen der ornithologischen Prominenz so viel Erstaunen auslösten.

Sein Hauptaugenmerk sollte jedoch über lange Zeit dem Geschehen vor der Berliner Haustür gelten. Die Vogelwelt der Trümmerberge, Baulücken, Ruinen und herrenlosen Gärten im zerstörten Nachkriegs-Berlin, weckten frühzeitig seine Vorliebe für die sogenannten Kulturfolger. Besonders in seinem Heimatbezirk Friedrichshain begann er systematisch Arten zu beobachten und aufmerksam Anpassungsformen in Verhalten und Ökologie zu registrieren.

Als sich 1965 der Arbeitskreis Avifaunistik Berlin gründete, war er zwar noch nicht dabei. Aber ebenso wie es ihm gelang, mich damals zur Mitarbeit in der Fachgruppe Entomologie zu überreden, überzeugt ich ihn davon, seine interessanten Beobachtungen ans avifaunistische Tageslicht zu befördern. Seit damals sind Entwicklung, Leistung und Erfolge der Ostberliner Ornithologen mit dem Namen Gerhard Jaeschke eng verbunden.

Von 1971 bis 1974 hatte er als Sekretär des Arbeitskreises die meiste Arbeit. In dieser Zeit machten wir zusammen (teilweise auch mit L. RECKIN) die aus meiner Sicht auch heute noch interessantesten Untersuchungen, wobei festzustellen ist, daß die Ideen dafür immer von ihm kamen.

So war die Untersuchung des Schlafplatzverhaltens von in der Innenstadt überwinternden Staren damals keine neue Idee. Erstaunlich war allerdings, als er bei der Kontrolle der Schlafplätze in der Karl-Marx-Allee plötzlich auf Waldohreulen stieß, die diese neue Nahrungsquelle erschlossen hatten.

Ebenso verblüffend waren seine Beobachtungen von Amseln, Grünfinken und Haussperlingen, die in Leuchtreklamen über den Geschäften in der Karl-Marx-Allee brüteten.

In beiden Fällen lösten seine Feststellungen gemeinsame, sehr zeitaufwendige systematische Untersuchungen aus, deren Ergebnisse bis heute weitgehend unveröffentlicht sind.

Ausführlich mitgeteilt sind hingegen seine aus dieser Zeit stammenden mehrjährigen Beobachtungen an gebäudebrütenden Türkentauben.

In gleicher Weise begann er 1968 die Brutplätze von Elster und Nebelkrähe in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain zu kontrollieren, was zu den vor allem von R.LEHMANN durchgeführten Langfristuntersuchungen geführt hat. Auch hier harren die Nebelkrähen-Ergebnisse der Auswertung. LEHMANN, der 1974 vom Studium aus Potsdam kommend zum Arbeitskreis fand, war für Henry ein wichtiger Partner und Befürworter seiner Ideen. Ebenso verband ihn mit J. FIEBIG und R. MÖNKE mehr als nur der erwähnte Stallgeruch.

Die 70er Jahre waren für den Arbeitskreis die Zeit der Siedlungsdichte-Untersuchungen in typischen Stadthabitaten. Daran hatte Henry einen gehörigen Anteil. So war es vor allem seiner Tatkraft zu danken, daß 1971 mit der Untersuchung der Brutvögel auf allen Ostberliner S-Bahnhöfen und ein Jahr später auf den wichtigsten Friedhöfen begonnen wurde. Seine Argumente überzeugten, da er ein versierter Kenner erstaunlichster Ansiedlungen von Mehlschwalben, Haus- und Türkentauben oder Amseln unter Bahnhofsdächern und in Bahnhofshallen war. Kein Gelbspötter oder Sumpfrohrsänger in Stadtmitte, die er nicht kannte.

Zu dieser Zeit begannen sich allerdings seine Aktivitäten aus der Innenstadft mehr und mehr nach Pankow zu verlagern, was er anfangs oft genug bedauerte. So richtete sich die Auswahl seiner eigenen Untersuchungsgebiete seitdem nach Lage von Wohn- und Arbeitsort: die Kleingartenanlage Bornholm II 1976 sowie 1984 die von ihm bereits seit vielen Jahren systematisch untersuchten Schloßparks in Niederschönhausen und Buch. Auch bei den Kartierungsarbeiten zum Brutvogelatlas trug er zwischen 1978 und 1982 entscheidend zur Realisierung des Vorhabens insbesondere im Nordraum bei.

Überdies hatte Henry wie viele andere Ornithologen auch seine „Lieblingsarten“. Abgesehen von Arten, die ihm zufällig begegneten, wie Wacholderdrossel und Kanadagans, führte ihn besonders seine immense Beobachtungstätigkeit im Innenstadtbereich zu diesen Arten. Neben den bereits genannten Arten Türkentaube, Elster und Nebelkrähe, waren es vor allem die Schwalben, die sein besonderes Interesse fanden. So stellte er nicht nur das umfangreiche Material über die Ausbreitung der Mehlschwalbe im Ostteil der Stadt zusammen. Vielmehr lieferte er gemeinsam mit MÖNKE & FIEBIG sowie LIZBARSKI die Artbearbeitungen for Mehl-, Rauch- und Uferschwalbe zu der 1983 erschienenen Vogelwelt Brandenburgs. Auch die immer wieder diskutierte Nistplatzwahl der Stockente an extremen Standorten war ein Thema nach seinem Geschmack, das er 1988 gemeinsam mit OTTO behandelte.

Der Ornithologe Jaeschke war kein perfekter Avifaunist, der immer wußte, was national und international gerade im Zentrum des ornithologischen Interesses stand. Er hatte als besonders vielseitiger Zoologe (da er die „Vielschreiber“ geringschätzte, ist seine Publikationsliste zwar nicht übermäßig lang, spricht aber dennoch für sich) nur selten Anlaß, nach Ideen Ausschau zu halten. Henry hatte selber ausreichend genug davon, zuviele - sie hätten für zwei Leben gereicht. Manche waren sicher auch etwas verquer und es gab Fachgruppenmitglieder, die sich mit seinen Extravaganzen hin und wieder etwas schwer taten, was aber meist nicht nur an ihm lag.

Doch der Ornithologe Jaeschke war nur eine Facette des Zoologen Jaeschke und nur von daher zu bewerten. Ohne Zweifel war seine Beschäftigung mit der Vogelwelt ein wichtiger, zeitweise der wichtigste Teil seiner Interessen. Jedoch sei daran erinnert, daß er die hier dargestellte Entwicklung ebenso als Entomologe, Malakologe, Mammaloge, Herpetologe ... vollzogen hat und dabei genauso wie in unserer Fachgruppe mit gleichgesinnten Interessenten viele Arten und Gebiete beackert hat.

Und abgesehen davon war er trotz (oder gerade wegen) seiner großen Vielseitigkeit weit entfernt davon ein „Fachidiot“ zu sein. Nicht nur für mich wird es immer unbegreiflich bleiben, wie er neben allem anderen die Zeit fand, sich für TRAVEN oder das jüdische Leben im alten Berlin zu interessieren, bäuerliche Gerätschaften, alte schöne Gläser und Münzen zu sammeln.

Die Lücke, die sein plötzlicher Tod hinterließ, ist groß. Nicht nur unter Ornithologen.